Gesangspraxis und Gesangsästhetik

Unter diesem Motto steht ein auf vier Jahre angelegtes Forschungsprojekt, das im Rahmen einer 2011 vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) zugesprochenen Förderungsprofessur am Institut für Musikwissenschaft der Universität Bern beheimatet ist. Ein dreiköpfiges Team befasst sich mit dem Phänomen inhaltlicher und ästhetischer Kongruenzen zwischen der in Lehrwerken überlieferten Singpraxis des 17. bis 19. Jahrhunderts einerseits und den auf Tonträgern des frühen 20. Jahrhunderts dokumentierten, aus dem heutigen Kunstgesang weitgehend verschwundenen aufführungspraktischen Parametern vokalen Vortrags andererseits. Im Zentrum des Interesses steht die systematische Untersuchung der Entwicklungsgeschichte des 'italienisch inspirierten' Sologesangs sowie die konkrete Nutzbarkeit der gewonnenen Erkenntnisse für die heutige Musikpraxis im Sinne einer 'angewandten Interpretationsforschung'.

Die ästhetischen Maximen des Vortrags, wie sie in Gesangslehrwerken vom Frühbarock bis zur Romantik illustriert werden, vereint eine grundlegende Kondition: Die für den heutigen Betrachter eher ungewöhnliche Auffassung, dass eine komponierte solistische Melodielinie erst durch eine Reihe vortragsspezifischer Veränderungen (Nebennoten, Tonverbindungen, Diminutionen, Triller etc.) jenen Grad an künstlerischer Qualität erlangt, den die kollektive Wahrnehmung als erstrebenswert empfindet. Der vorgetragene Gesang hat sich folglich in signifikanten Punkten von der notierten Gestalt zu unterscheiden, um den Ansprüchen des Zeitgeschmacks vollumfänglich zu entsprechen.
Zahlreiche inhaltliche Berührungspunkte und Übereinstimmungen didaktischer Quellen untereinander führen dabei vor Augen, dass sich das Phänomen keineswegs auf eine einzelne musikgeschichtliche Epoche beschränken lässt. Vielmehr erhebt sich angesichts der deutlichen Analogien, die selbst zwischen Schriften des 17. und des 19. Jahrhunderts festzustellen sind, die Frage nach Kontinuitäten und 'Traditionen' der Vortragspraxis im abendländischen Kunstgesang. Ein Fragenkreis, der im wissenschaftlichen Diskurs bislang völlig unbeachtet geblieben ist.

Und auch ein Vergleich historischer Tonaufnahmen von bedeutenden Sängerinnen und Sängern des frühen 20. Jahrhunderts führt zu der bemerkenswerten Feststellung, dass diese ausführenden Künstler in ihrem Vortrag eine Reihe von 'Ingredienzen' rhythmischer, vor allem aber melodischer Art vorsehen, die den geschriebenen Verlauf der Komposition auf fein nuancierte, zuweilen aber auch auf sehr deutliche Weise abändern. Überdies ist zu beobachten, dass bei Aufnahmen desselben Werkes unterschiedliche Interpreten, obschon sie zu keiner Zeit in einem Lehrverhältnis zueinander standen, an gewissen Stellen der Melodie die gleichen oder ähnliche Alterationen anbringen, und damit offenbar übereinstimmenden oder verwandten ästhetischen Parametern folgen. Parametern, die sich in vergleichbaren modernen Einspielungen derselben Werke nicht oder nur in Ausnahmefällen verifizieren lassen.
Weitaus frappierender ist indes die sich bei näherer Betrachtung einstellende Erkenntnis, dass die auf Tondokumenten festgehaltenen Vortragspratiken des frühen 20. Jahrhunderts in vielen Punkten mit dem einhergehen, was in didaktischen Werken früherer Jahrhunderte als ästhetisches Ideal propagiert wird. Ist also die frühe Tonaufnahme als Abbild ästhetischer Traditionen zu deuten, die mehrere musikhistorische Epochen überspannen?

Ziel der Arbeit ist es, diese sich beim gegenwärtigen Forschungsstand nur in unscharfen Konturen andeutenden Zusammenhänge auf breiter Basis zu untersuchen. Zu diesem Zweck werden vor allem zwei besonders aussagekräftige Quellenformen herangezogen: Theoretisch-didaktische Schriften zur Gesangslehre vom Anfang des 17. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts auf der einen Seite und historische Tonaufnahmen von der Anfangszeit der Aufnahmetechnik um 1900 bis ca. 1950 auf der anderen. Dieser komplementäre methodologische Ansatz, der sich bewusst nicht auf schriftliche Quellen beschränkt, sondern darauf abzielt, auch das Phänomen des klingenden künstlerischen Vortrags zu erfassen und zu analysieren, stellt auch in methodischer Hinsicht ein Novum in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Forschungsgegenstand dar.
Auf musikwissenschaftlichem Feld verfolgt die Untersuchung die Absicht, die Entwicklungsgeschichte des solistischen Gesangsvortrags en détail nachzuzeichnen, auf anschauliche Weise zu dokumentieren und durch den so gewonnenen Überblick die im Titel formulierte Fragestellung umfassend zu beantworten. Im Bereich der Interpretationsforschung ist durch die auf diesem Weg erworbenen Erkenntnisse – und dies unabhängig von den einzelnen Resultaten – ein wichtiger Beitrag zur Neubewertung heute etablierter Normen bei der Wiedergabe vokalen Solorepertoires zu erwarten.
Die Publikation der Forschungsergebnisse erfolgt sowohl in Form eines monographischen Handbuchs, als auch in einer Reihe öffentlicher Gesprächskonzerte (Gesangsrezitals).

Team