Gustav Mahlers Neunte Sinfonie: "Ich sehe alles in einem so neuen Lichte"
Bereits kurz nach Gustav Mahlers Tod am 18. Mai 1911 entsteht der Mythos, der Komponist habe sich in seiner Neunten Sinfonie von seiner Familie, seinen Freunden und der Welt verabschiedet und den eigenen Tod vorauskomponiert. Dieser Mythos bezieht sich einerseits auf das Trauma rund um den Tod der Tochter Maria Anna am 12. Juli 1907 und die anschliessende Diagnose eines Herzfehlers bei Mahler selbst, er hängt andererseits mit dem Aberglauben zusammen, seit Beethoven könne kein Komponist mehr als neun Sinfonien komponieren. Ersteres wird von Alma Mahler kolportiert, die Furcht vor der Zahl 9 hat Arnold Schönberg 1912 in seiner Prager Rede wie folgt auf den Punkt gebracht: „Es scheint, die Neunte ist eine Grenze. Wer darüber hinaus will, muss fort.“ Der Mythos wird in den ersten zehn Jahren nach Mahlers Tod vom gesamten Mahlerkreis derart befeuert, dass er bis heute nachwirkt. Die Überzeugung, bei Mahlers Neunter handle es sich um ein zutiefst biographisch konnotiertes Werk und um eine „Meditation über die Endlichkeit“ (Christian Wildhagen, 2010), hält unvermindert an.
Studiert man verschiedene Aussagen Mahlers aus dem Jahre 1909, kommen unverzüglich Zweifel an der Glaubwürdigkeit dieses Mythos’ auf. Die Neunte erscheint dann nicht mehr als persönlicher Abschied des Komponisten beziehungsweise als Vorauskomposition des eigenen Todes. Wie aber muss ein anderes Verständnis von Mahlers letzter vollendeter Komposition geartet sein? Die Entdeckung eines intertextuellen Zusammenhangs zum vierten Satz der Dritten Sinfonie kann eine Antwort auf diese Frage geben: Der Beginn der Neunten weist – neben dem prominenten Bezug auf den Schluss des Lieds von der Erde – eine frappante melodisch-harmonische Ähnlichkeit mit der Stelle in der Dritten auf, wo der Solo-Alt das Nachtwandler-Lied („Oh Mensch! Gib Acht!“) aus Also sprach Zarathustra von Friedrich Nietzsche singt. Auch im vierten Satz der Neunten sind intertextuelle Beziehungen zu finden (konkret zum Urlicht aus der Zweiten Sinfonie sowie zum Blick-Motiv aus Richard Wagners Parsifal), welche den Nietzsche-Bezug einerseits unterstützen und andererseits kontrastieren.
In meiner Dissertation wird der Versuch angestellt, Mahlers Neunte Sinfonie in einem neuen programmatischen Kontext zu interpretieren, bei welchem die Begriffe Ewigkeit, Unsterblichkeit und Unvergänglichkeit im Fokus der Betrachtungen stehen. Der differenzierte Blick lässt Mahlers Neunte nicht mehr als „zermürbenden Gesang“ (Paul Bekker, 1921) erscheinen und lenkt den Fokus weg vom Glauben an eine primär biographische Konnotation hin zu einer literarisch-philosophischen Interpretation. Arnold Schönberg scheint dieses programmatische Moment 1912 anlässlich seiner Prager Rede zu erahnen: „Seine Neunte ist höchst merkwürdig. In ihr spricht der Autor kaum mehr als Subjekt. Fast sieht es aus, als ob es für dieses Werk noch einen verborgenen Autor gebe, der Mahler bloß als Sprachrohr benützt hat. Dieses Werk ist nicht mehr im Ich-Ton gehalten. Es bringt sozusagen objektive, fast leidenschaftslose Konstatierungen, von einer Schönheit, die nur dem bemerkbar wird, der auf animalische Wärme verzichten kann und sich in geistiger Kühle wohlfühlt.“
Ebenfalls 1912 weisen Richard Specht und Julius Korngold in ihren Besprechungen der Uraufführung der Neunten auf den oben beschriebenen Zarathustra-Bezug hin. Die Entdeckung des Zusammenhangs ist bis heute erstaunlicherweise ohne Echo geblieben. Aus diesem Grund knüpfe ich in meiner Dissertation bewusst bei den beiden Rezensionen an. Gustav Mahler sieht nach den Katastrophen von 1907 „alles in einem so neuen Lichte“ (Brief an Bruno Walter, Anfang 1909). Das Ziel ist es, die Neunte Sinfonie ihrerseits aus dem Blickwinkel des 21. Jahrhunderts in einem neuen Licht zu erfassen. Der Komponist selbst stellt seine letzte vollendete Sinfonie „der IV. an die Seite“ (Brief an Bruno Walter, Ende August 1909) – die Rätsel, welche dieser Vergleich mit sich bringt, sollen durch neue Perspektiven gelöst werden.